„Altwerden ist nichts für Waschlappen.“ (Bette Davis)
Aber 50 ist noch in Ordnung.

Zeitgenössische Kunst

Andreas Beaugrand

Selten haben wir einen Ausstellungstitel erlebt, der so viele Reaktionen ausgelöst hat wie dieser: „Das ist aber eine tolle Idee!“, „Großartiger Ausspruch!“, „Guter Anlass für ein derartiges Projekt!“ und eine „außergewöhnliche Erinnerung“ an Bette Davis (1), die eine der „größten Schauspielerinnen Hollywoods“ war – ohne Diva zu sein. Das hat uns gefreut und mich zugleich vor die Herausforderung gestellt, Grund und Anlass für die Ausrichtung dieser Ausstellung und die Herstellung dieses ausstellungsbegleitenden Kunstbandes zu überdenken, zumal es hier um Zeit, auch um Lebenszeit, um Kunst – was unsere Leidenschaft ist – und um Kultur und ihre Vermittlung geht – was mein Beruf ist.

Was aber ist Kunst? Diese Frage beschäftigt uns seit vielen Jahren, beruflich und privat, und manchmal fragen wir uns, warum wir das, was wir tun, genauso machen, wie wir es tun. Zugleich ist diese Frage nach der Bedeutung von Kunst alt. In kulturtheoretischen und philosophischen Kreisen wird sie seit jeher erörtert, weil sie sehr viel mit dem Sinn des Lebens ganz im Allgemeinen, dem Umgang damit und dem Lebensgefühl an sich zu tun hat: Kunst, hier als „phantasievolle Kunstfertigkeit“ und „kreatives Können“ aufgefasst, stellt unserer realen Welt ein freies, freiheitliches Pendant gegenüber, sie stellt geradezu ihr Gegenteil dar, obwohl sie sich thematisch aus dem Reservoir der Alltagsweltlichkeit bedient, diese spielerisch kommentiert, ironisch-sarkastisch interpretiert, sich von ihr abhebt und auf diese Weise oftmals sogar erhaben wird.

Es ist hier nicht der Platz für eine detaillierte Erörterung der Begriffs „Kunst“, die in dem neuerlichen Versuch gipfeln könnte, eine in sich schlüssige und umfassende Definition von Kunst zu liefern. Es geht darum, einen durchaus weiter vermehr- und vertiefbaren Einblick in das zu geben, was das Faszinosum „Kunst“ auszeichnet: so, wie wir es verstehen und wie wir damit leben, zumal es ein konsistentes und anhand von bestimmten Eigenschaften beschreibbares „Wesen“ der Kunst nicht gibt – erst recht nicht, seitdem Marcel Duchamp mit seinen Ready-mades Anfang des 20. Jahrhunderts und Andy Warhol mit seinen legendären Brillo-Schachteln einige Jahrzehnte später nachhaltig verdeutlicht hat, dass es offenbar weniger auf die ästhetische Qualität eines Kunstwerks ankommt, als auf den Kontext, in dem man es präsentiert, selbst wenn „es“ kein Kunstwerk, sondern ein handelsübliches Pissoir oder der Nachbau einer Waschmittelverpackung ist – Objekte, die mit „erhabener Schönheit“ vergleichsweise wenig zu tun haben. Die dogmatische Forderung nach dem Ästhetischen in der Kunst war damit relativiert. Es folgte, beeinflusst durch die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts, der Weg der Kunst in die Freiheit, Freiwilligkeit und Beliebigkeit, in der sich selbsterklärte Künstlerschaft ebenso inflationär entwickelte wie die Orte des Geschehens: Kunst raus aus dem Museum, in den öffentlichen Raum, in die Fabrik, Kunst in „…, an …, auf …“, Kunst überall, auf Kalendern, Autos und Gardinen, als Protest und Provokation, als ästhetische Beliebigkeit und hässliche Gewöhnlichkeit. An die Stelle der Tradition trat das Experiment, an die Stelle des Genusses der Spaß, an die Stelle des ästhetischen Erlebnisses das „Konzeptuelle“ und „Installierte“ („Ach, das ist ja interessant!“). Ein „neues Nachdenken“ wurde eingefordert – als wäre es etwas vollkommen Neues und Revolutionäres, dass Kunst Anlass zum Denken ist; wie sagte Joseph Beuys um 1980: „Wer nicht denken will, fliegt raus.“ Was aus derartigem Streben nach Innovation(2) herauskam, war und ist zumeist von entsprechender ästhetischer Dürftigkeit und Beliebigkeit, dass differenziertere ästhetische Ansprüche scheinbar kaum noch eine Rolle spielten, von einer künstlerischen kommunikativen oder intellektuellen Intention ganz zu schweigen, deren Symbolik, ins Sprachliche oder Alltagsweltliche übersetzt bzw. dechiffriert, die Betrachter auf spezielle Weise bewegen soll – und zwar nicht dergestalt, dass Künstler die Betrachter mit der jeweiligen Meinung belehren soll oder will, sondern durch die Vermittlung der Erkenntnismöglichkeit dessen, was jenseits des vordergründig sichtbaren Kunstwerks liegt, das an sich ja vielfältig, vieldeutig und nicht geradlinig verstehbar ist, vorausgesetzt, man will es verstehen, hat eine gewisse Erfahrung und spricht diese Sprache der Kunst, die man tatsächlich lernen muss.

Sicherlich hat sich Kunst heute – losgelöst von gesellschaftlicher Beliebigkeit, fehlendem Auftrag und nicht festgelegtem Stil – immer wieder neu zu erfinden, anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, als die sogenannte Avantgarde noch wesentlich von der Malerei getragen wurde. Doch das Dogma des Fortschritts setzte alle Grenzen frei. Die Avantgarde forderte eine Kunst, die die traditionellen Mittel der Malerei offenbar für viele außer Kraft gesetzt hat: Künstler wurden Avantgardisten, indem sie die Kunst zunächst vom Darstellbaren befreiten. Die Reflexion über die eingesetzten Mittel und deren Bildhaftigkeit bestimmten jetzt die künstlerischen Handlungen. Die Resultate dieser Reflexion blieben weitgehend kunstimmanent, und das Vertrauen auf den Fortschritt in der Kunst führte dazu, dass die Malerei beispielsweise monochrom wurde oder die Leinwand durchbrach. Aus heutiger Sicht gehören diese Errungenschaften zur Tradition. Das Fortschreiten und Erneuern zeitgenössischer Künstler bestimmte lange Zeit ihre Werke, die sie ihrer jeweiligen Gegenwart entgegenstellten. Der Spielraum zwischen revolutionärer Tat und gesellschaftlicher Akzeptanz wurde jedoch immer geringer. Heute erfolgreiche Künstler sind keine Vorkämpfer mehr, sondern Vertreter des Zeitgeistes: Der Erfolg eines Kunstwerks und damit eines Künstlers wird über den Preis und seine Verkäuflichkeit gemessen, die vom jeweiligen Trend abhängig ist. Tabubruch wird zum Stil, der Schock des Publikums wird zur Spekulation – mit einem zunächst unerwarteten, aber schließlich doch bekannten Reaktionsschema: Kalkulation ersetzt Imagination, Bilder werden nicht mehr gemalt, sondern „produziert“.

Doch es kann auch anders gehen: Eine Voraussetzung für eine tatsächlich sinnstiftende Auseinandersetzung mit Kunst ist ein Blick auf die Bedeutung des Begriffs der „Kultur“ (von lateinisch „cultura“ = „Bearbeitung“, „Pflege“, „Ackerbau“), der landläufig als das verstanden wird, was der Mensch im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur selbst gestaltend hervorbringt, hier aber als die „Pflege des Geistigen“, als die Auseinandersetzung mit der intellektuellen Dimension des „selbst Gestalteten“ auf dem Gebiet von Kunst und Kultur aufgefasst wird und dazu beiträgt, dass sich authentische Kunst durch eben diese Ebene der „geistigen Aussage“, der Bedeutung oder Deutungsfähigkeit von andern wie auch immer gearteten ästhetischen Hervorbringungen des Menschen abgrenzt,(3) und die damit sowohl über die physikalische Realität des Kunstwerks selbst wie auch über das Repräsentierte hinausweist. Das ist es, was authentische Kunst ausmacht, und dieser Bedeutungshorizont verleiht der Kunst ihre verbal nicht fassbare, wohl aber interpretierbare Dimension.

Aus alledem lässt sich an dieser Stelle zweierlei ableiten: Weniger gute Kunst hat keine Bedeutung hinter dem Sichtbaren und macht weitere Interpretation unnötig und unmöglich. Gute Kunst ist metaphorisch und bietet den Betrachtern über ihre ästhetische Gestalt eine Vielfalt von Assoziationsfeldern, Bedeutungskomplexen und Vernetzungsmöglichkeiten. Bereits der amerikanische Philosoph und Kunstkritiker Arthur Coleman Danto, geboren 1924 und von 1966 bis zu seiner Emeritierung Professor an der Columbia University in New York, hat sich zeit seiner akademischen Forschung mit dieser Frage befasst und bestätigt diese Auffassung mit seiner nach wie vor plausiblen Theorie des „aboutness“.(4) Sie besagt, dass Kunstwerke sich von alltagsweltlichen und gewöhnlichen Dingen dadurch unterscheiden, dass sie immer „über etwas“ sind, und zwar in einem doppeltem Sinn: Sie thematisieren ihren Gegenstand und zugleich dessen Präsentationsform, verweisen also „über sich hinaus und zugleich auf sich selbst zurück.“ Aber schon seit Duchamp und Warhol, nach Happening und Fluxus und alledem, was uns die jeweils zeitgenössische Kunst auf ihren vielfältigen Foren bis heute nicht sanktioniert anbietet, kommen wir mit dieser Definition allein nicht mehr weit, wenn wir wissen, dass wir denselben Gegenstand einmal als Kunstwerk, ein andermal aber als gewöhnliches, der realen Welt zugehörendes Objekt wahrnehmen können. Der Grund dafür kann kaum im zu betrachtenden Objekt liegen, sondern nur in unserem Bewusstsein, das offenbar imstande ist, von der Alltagswahrnehmung auf eine andere Art der Wahrnehmung umzuschalten.

Wir bieten seit der Gründung der Beaugrand Kulturkonzepte Bielefeld Ende 2003 ein neues und zugleich zeitgemäßes Forum für diesen Wechsel von einem „Empfangskanal“ zum anderen, der es, stimuliert durch das besondere Ambiente der Präsentation zwischen Ausstellungs- und privatem Lebensraum, ermöglicht, die ausgestellten Werke mit ästhetisch sensibilisierten Augen zu sehen. Kunst existiert im Raum des menschlichen Bewusstseins und entsteht als künstlerische Vision im Bewusstsein der Künstler und wird im Bewusstsein der Betrachter dechiffriert. Das gelingt umso erfolgreicher, je besser die kulturelle und mentale Welt des Künstlers mit der des Rezipienten übereinstimmt.

Vielleicht erklärt sich dadurch der Erfolg unserer Idee: Dass wir nämlich bei unseren Kulturbegegnungen Freunde der Kunst mit Künstlerfreunden zusammenbringen, die diese Übereinstimmung aufweisen. Das ist nicht zufällig, sondern Ergebnis tatsächlich jahrelanger Erfahrung – mit der Kunst, ihrer Geschichte, ihren Machern und Agenten, mit der Kunstszene und ihren Messen, den dazugehörenden Medien und Meinungsmachern, was schließlich zu dem Ergebnis geführt hat, dass Kunst und Kultur unser Leben schöner, größer und reicher macht. Hier stimmen wir mit dem rumänisch-deutschen Philosoph Walter Biemel überein, der 1996 formulierte: „Es hat mit der Kunst eine merkwürdige Bewandtnis. In einer auf Nutzen und Gewinn eingestellten Zeit ist sie unnütz. Man kann mit ihr nichts anstellen, kann sie nicht gebrauchen, wie die zahlreichen Dinge unserer Umwelt, auf die wir zurückgreifen, wenn wir etwas ausführen wollen, vom Messer, mit dem wir schneiden, bis zum Flug­zeug, mit dem wir uns fortbewegen, den Kleidern, die wir anziehen, dem Fotoapparat, mit dem wir Aufnahmen machen, und dem Geld, das wir ausgeben, um so etwas zu erwerben. Mit dem Kunstwerk können wir nichts anfan­gen und verrichten. Warum verzichten wir dann nicht einfach auf Kunst? Weil wir das sonderbarerweise nicht können, ohne unser Leben entscheidend zu verarmen. Ist das nicht ein Zeichen, dass die konsequent auf Nutzen eingestellte Mentalität der menschlichen Existenz nicht gerecht wird, nicht gerecht werden kann?“(5)

Wir haben dieses Zeichen zum Anlass genommen, eine Ausstellung auszurichten, um „unsere“ Kunst zu präsentieren – Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, mit denen wir uns zum Teil schon viele Jahre verbunden fühlen, mit denen wir zum Teil vielfach Kunstprojekte veranstaltet und zusammengearbeitet haben und die wir im beschriebenen Sinne für authentisch halten: Es sind 50 Positionen zum 50. Geburtstag: „Da kann man trotzen und schmollen oder ein rauschendes Fest feiern“, wie „Giulia“-Regisseur Christoph Schaub Anfang 2010 feststellte. Wir haben uns mit ihm für die zweite Möglichkeit entschieden, feiern ein Fest mit den Künsten und sind davon überzeugt, dass es uns geht wie der Protagonistin des aktuellen Spielfilms: Freudig-überrascht über die unerwartete Wende der Veranstaltung und dadurch versöhnt mit der eigenen Existenz – Giulia – bietet sich für uns durch Ausstellung und Kunstbuch die Möglichkeit, uns am Diskurs über ein universelles Thema zu erfreuen, mit dem alle Menschen in der einen oder anderen Form konfrontiert sind: Alter, Verlust an Jugend, Attraktivität, Dynamik und sexueller Vitalität, aber auch die positiven Attribute des Älterwerdens wie Erfahrung und Zeitempfinden, vielleicht aber auch Weisheit, Gelassenheit oder Charisma. Insofern ist „Altwerden nichts für Waschlappen“, wie Bette Davis es salopp formulierte – oder muttersprachlich: „Old age is no place for sissies.“

„Aber 50 ist noch in Ordnung“, wie ich meine, weil in der Fülle der Jahre doch auch viel Erinnerung, Erfahrung und die Basis für weitere Lebensjahre liegen. Ich möchte jedenfalls nicht mehr zwanzig sein. Man stelle sich das mal vor – zumal Jugend auch nicht mehr das ist, was sie mal war, „denn neuerdings will sie nicht einmal mehr vorübergehen“, wie ein Stern-Redakteur beim „Jahresendabwasch“ am 31. Dezember 2009 süffisant resümierte.

Wir haben uns entschieden, dem Faktor „Zeit“ in diesem Projekt eine besondere Funktion zuzuschreiben, da überzeugende und nicht „für den Tag“ gemachte Kunstarbeit immer auch mit Ausdauer, Kontinuität und Konsequenz zu tun hat, und uns auf dieser Basis den künstlerischen Medien Malerei und Zeichnung, Bildhauer- und Objektkunst sowie Fotografie (Stand-, Bewegtbild) zuzuwenden.

Malerei und Zeichnung:

Im Verlauf der jüngsten Kunstgeschichte wurde vielfach und voreilig das Ende der Malerei ausgerufen, bis einerseits die „Jungen Wilden“ und andererseits Ironiker wie Martin Kippenberger, Gerhard Richter und Sigmar Polke seit den 1980er Jahren einen neuen „Schub“ initiierten, der zugleich im Frühjahr 1989 den „Kölner Bilderstreit“ mit einem finanziellen Crash auf dem Kunstmarkt zur Folge hatte. Dennoch behauptet sich die Malerei bis heute neben vielen anderen Kunstformen, weil sie zum Einen für eine kunstmarktgesteuerte Nachfrage nach vermeintlicher „Authentizität“ und der Figur des „Künstlergenies“ steht, zum Anderen aber immer wieder aufs Neue unerwartete Entdeckungen und Überraschungen ermöglicht. Wir zeigen in dieser Ausstellung Arbeiten von Marek Bieganik, Rosario De Simone, Dorothea Fischer, Jörn Grothkopp, Beate Haupt, Sebastian Heiner, Edgar Hofschen, June (Ursel Jäger), Reinhard Lange, Markus Lörwald, Manfred Mayerle, Michel Meyer, Christa Niestrath, Michael Plöger, Matthias Poltrock, Fred Schierenbeck, Hans Sieverding, Bernhard Sprute und Wolfgang Troschke und damit Werke, die diese Überraschungen und Entdeckungen im Grenzbereich zwischen Malerei, Zeichnung und Graphik(6) ermöglichen. Aber es gibt Zwischenbereiche:

Der Maler Frank Bölter ist heute als Performance- und Objektkünstler tätig, der Bildhauer Lutz Friedel tritt in dieser Ausstellung nur als Maler auf, Christian J. Hages Kunst liegt zwischen Malerei und Objekt, Markus Jäger arbeitet im Grenzbereich zwischen Malerei, Zeichnung  und Fotografie, Elisabeth Lumme im Crossover von Malerei, Installation und Film, Yael Niemeyer zwischen Malerei und Bildhauerkunst, Christoph Rust an der Schnittstelle zwischen Malerei, Zeichnung und Objekt, Ulrike Siebenhaar-Hage zwischen Skulptur, Zeichnung und Fotografie und Anne Sommer-Meyer schließlich zwischen Malerei und Objekt. Diese Künstlerinnen und Künstler schaffen damit einen konzeptuellen Übergang zur

Bildhauer- und Objektkunst:

Seit der Renaissance, als man den Menschen als Maß aller Dinge zu begreifen begann, spielt in der Kunstgeschichte die Frage, wie man eine Figur „richtig“, d.h. dreidimensional und perspektivisch darzustellen hat, eine zentrale Rolle; Michelangelos „David“, den er zwischen 1501 und 1504 in Florenz angefertigt hat, spricht hier Bände. Wesentlich ist, dass jede dreidimensionale Kunst, gleichgültig, ob es sich um eine Skulp­tur (von lateinisch „sculpere“: schnitzen) oder eine Plastik (von griechisch „plassein“: for­men, bilden) handelt, eine Rundumansicht ermöglichen und ihrerseits einen stimmigen Bezug zum umgebenden Raum haben muss. Damit ist das Augenmerk auf eine für diese Kunst wichtige Differenzierung gerichtet, die im allgemeinen Sprachgebrauch allzu oft in Vergessenheit gerät: Nicht jedes dreidimensionale künstlerische Objekt ist eine Plastik oder eine Skulptur. Vielmehr sind beide Bezeichnungen Gattungsbezeichnungen, die die Bildhauerkunst jeweils nach der zugrunde liegenden Technik unterscheiden. Wir zeigen in dieser Ausstellung dreidimensionale künstlerische Werke im Grenzbereich zwischen Objektkunst, Skulptur und Plastik und im Dialog zwischen Drinnen und Draußen Arbeiten von Walter Hellenthal, Mario Krohnen, Ulrich Möckel, Werner Pokorny, Karl Manfred Rennertz, Werner Schlegel und Klaus Seliger.

Im Bereich von Fotografie (Stand-, Bewegtbild) liegt der Ausstellungsschwerpunkt schließlich im Kontext der „Bielefelder Schule“, die sich an der Fachhochschule Bielefeld seit den 1960er Jahren entwickelt hat. Seit dieser Zeit folgte die „globalisierte“ Kommunikationsgesellschaft immer unreflektierter der Quantität belangloser und bedeutungsloser Bilder, die lediglich Abbilder einer scheinbaren Wirklichkeit sind. Als Gegenpol zu dieser Inflation der Bilder und in Verbindung mit den gesellschaftsverändernden Strömungen, die auch zur „68er Revolte“ führten, entstand 1968 in Bielefeld die Generative Fotografie(7), deren Intention insbesondere darin lag und bis heute immer noch liegt, einem fotografischen Bild eine reale Gültigkeit zu geben, ohne dass es etwas ab-bildet: Es geht um das Bild als einen autonomen Gegenstand. Innerhalb der fotografischen Szene wurde seit den 1960er Jahren Inhalt und Aufgabe der Fotografie zwischen der „subjektiven fotografie“ nach Otto Steinert(8) (1915–1978) und der „Totalen Photographie“ des Traditionalisten und „Magnum“-Herausgebers Karl Pawek(9) (1906–1983) diskutiert, die die Entstehung der Generativen Fotografie wesentlich geprägt und mitbestimmt haben: Steinert war kurz gefasst der Überzeugung, dass der Mensch mit Hilfe der Kamera kreativ gestalte. Pawek vertrat die Auffassung, dass der Apparat im Mittelpunkt der Fotografie stünde und leugnete damit ihren Kunstanspruch. Die Generative Fotografie entstand – und das ist kulturpolitisch wesentlich! – als „äußerste Absage an beide“ (Gottfried Jäger(10)) und entwickelte sich seitdem zu einer eigenständigen künstlerisch-wissenschaftlichen Disziplin zwischen Fotografie und Bildender Kunst. Im Sinne des Nestors der Generativen Fotografie, Herbert W. Franke, verbinden sich in der Kunstform Fotografie zwei Kulturen – Technik und Naturwissenschaften auf der einen, Kunst und Philosophie auf der anderen Seite(11) –, hier in jede der genannten fotografischen Richtungen und zum Teil nochmals spezialisiert und aktualisiert vertreten durch Roman Bezjak, Jörg Boström, Sebastian Denz, Jürgen Escher, Axel Grünewald, Paul Hartjens, Jürgen Heinemann, Thomas Henke, Karl Martin Holzhäuser, Gottfried Jäger, Bernd Jansen, Thomas Kunsch, Diether Münzberg, Matthias Schrumpf und Daniel Schumann.

Damit zeigen wir Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die wir schätzen und die wir – jeweils auf ihrem Gebiet – als anregend, aufregend, authentisch und gültig auffassen. Wir sind sicher, dass wir auf diese Weise der deutlichen Kunstkritik des Konzeptualisten Timm Ulrichs entgehen werden. Bereits 1975 hatte er, Jahrgang 1940, Konzeptkünstler und von 1972 bis 2005 Professor für Bildhauerei und Totalkunst an der Staatlichen Kunstakademie Münster, mit seiner heute legendären Performance auf die sich abzeichnende Inflation von Kunstwert und -gehalt hingewiesen, indem er einen Blinden spielte, der es nicht mehr erträgt, sich all das anzusehen, was auf dem Kunstmarkt angeboten wird. Im Rahmen eines Interviews anlässlich der Vorbereitungen seiner Ausstellungen, die ihm aktuell zu Ehren seines 70. Geburtstages in Hannover ausgerichtet werden, wurde Timm Ulrichs gefragt, ob er wieder Kunst sehen könne. Er antwortete: „Ich bin weder ein Blinder noch ein Seher, auch kein blinder Seher. Was ich aber zu betrachten mich weigere, ist eine Kunstmarkt-Kunst, die von maßlos eitlen, aber finanzkräftigen Großsammlern gestützt wird, die alle dasselbe Zeugs und dieselben Namen sammeln (lassen) und die die ausgepowerte öffentliche Hand zu erpressen vermögen. Mittlerweile bestimmen einige Privatleute, was in vielen Museen gezeigt wird, und wie bei Lidl und Aldi oder McDonald’s ist das Sortiment allzu oft das Gleiche, bei Flick, Marx, Burda, Brandhorst: überall Warhol, Richter, Twombly, Beuys. Das nervt entschieden.“(12)

Dem schließen wir uns vorbehaltlos an und zeigen diese Werke der genannten Künstlerinnen und Künstlern, die uns in den letzten Jahren begleitet haben und die mit uns freundschaftlich verbunden sind – aus gegebenem Anlass 50 an der Zahl –, und damit Kunst, die neben all den inszenierten Scheinwelten unserer Zeit nach wahren Momenten sucht: In einer Welt, in der immer weniger echt scheint, liegt vielleicht genau darin die Kunst. Im Übrigen halten wir es mit einem herzlichen Dank an alle, die Kunstbuch und Ausstellung mit ermöglicht haben, wie Butler James, der seit 1963 an jedem Silvesterabend bei der Geburtstagsfeier seiner Arbeitgeberin Miss Sophie in die Rollen der längst verstorbenen Ex-Liebhaber Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr. Winterbottom und Mr. Pommeroy schlüpfen muss: „Skål!“ – „Mr. Pommeroy!” – „Happy New Year, Sophie love!” – „Mr. Winterbottom!” – „Well, here we are again, old lovie....By gum, you look younger than ever, love, younger than ever ... hey, hey, hey ...”

Anmerkungen:

1 Bette Davis (1908–1989), „Königin des bösen Blicks“, scheute sich nie, den „weiblichen Fiesling“ zu spielen. In ihrer fast 60 Jahre langen Karriere bis zum Krebstod 1989 hat sie mehr als 100 Filme gedreht, zehnmal wurde sie für einen Oscar nominiert, zweimal hat sie ihn erhalten. Ihr privates Leben verlief dagegen tragisch, was im Kontext dieses Projekts unberücksichtigt bleibt.

2 Etwa durch die Aufforderung des Kölner Galeristen Paul Maenz an die „Jungen Wilden“ der „Mülheimer Freiheit Nr. 110“, Hans Peter Adamski, Peter Bömmels, Walter Dahn, Jiri Georg Dokoupil, Gerard Kever und Gerhard Naschberger: „Kinder, macht Neues!“

3 Veranschaulicht wird dieses Bild durch die lapidare Frage, was etwa volltrunken grölende und mühsam Bierflaschen tragende Fußballanhänger mit Fußballkultur zu tun haben; Ähnliches gilt für Kneipen-, Vereins-, Sport- und andere Arten von Kultur.

4 Arthur Coleman Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M. 1984, und ders., Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996.

5 Walter Biemel, Die Stimmkraft der offenen Bilder von Gerhard Hoehme, in: Ders., Gesammelte Schriften. Band 2: Schriften zur Kunst, Stuttgart 1996, S. 179–181 (Einleitung).

6 Für alle nicht-malerischen Darstellungen hat sich darüber hinaus der Ausdruck „Graphik“ etabliert. Darin kommt zum Ausdruck, dass „Zeichnen“ begriffsgeschichtlich mit „Zeichen“ verwandt ist: Wir sind aufgefordert, diese künstlerischen Zeichen zu erkennen und zu dechiffrieren.

7 Ausstellung Generative Fotografie mit Arbeiten von Kilian Breier, Hein Gravenhorst, Pierre Cordier und Gottfried Jäger im Städtischen Kunsthaus Bielefeld, dem Vorgänger der Kunsthalle Bielefeld, Januar 1968.

8 Vgl. dazu Ulrike Hermann, Otto Steinert und sein fotografisches Werk: Fotografie im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, Kassel 2001; Bernd Jansen etwa ist Steinert-Schüler.

9 Vgl. Karl Pawek, Das optische Zeitalter, Olten/Freiburg 1963.

10 Vgl. Andreas Beaugrand (Hg.), Gottfried Jäger. Schnittstelle. Generative Arbeiten (Ausstellungskatalog Bielefelder Kunstverein), Bielefeld 1994, S. 8.

11 Vgl. Herbert W. Franke, Kunst und Konstruktion. Physik und Mathematik als fotografisches Experiment, München 1957.

12 Timm Ulrichs, in: Kunstverein Hannover 2010 (Vereinszeitschrift), S. 14 f.