Petit Frère. Gesammelt und wohlgeordnet aufbewahrt Werke 1957–1994


Werner Pöschel (1927–2002) zum 80. Geburtstag

9. Februar bis 29. April 2007

Andreas Beaugrand

Am 8. Februar 2007 wäre Werner Pöschel alias Petit Frère 80 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass entstand im Jahr 2006 das Werkverzeichnis des Bielefelder Diakons und Künstlers mit dem Titel „Gesammelt und wohlgeordnet aufbewahrt: Werke 1957-1994. Werner Pöschel (1927–2002) zum 80. Geburtstag“ – zunächst als Examensarbeit der Studentin Ulrike Wetzlar, die mit diesem Thema bei Prof. Dr. Andreas Beaugrand am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld im Juli 2006 ihr Diplom gemacht hat, im Januar 2007 dann als umfassend erweitertes Druckwerk, veröffentlicht im Verlag für Druckgrafik Hans Gieselmann, Bielefeld. Die begleitende Ausstellung – vom 9. Februar bis zum 29. April 2007 bei Beaugrand Kulturkonzepte Bielefeld, vom 11. Mai bis zum 24. Juni 2007 im Haus Nazareth der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel – erinnert an den nicht nur für die Stadt Bielefeld bedeutenden Künstler und Kulturpreisträger der Stadt.

Das Projekt (aus dem Einführungstext)
Was würde Werner Pöschel, der Künstler Petit Frère, angesichts der aktuellen Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunst gesagt haben? Hätte er in der Folge seiner „Taschendocumenta“ aus dem Jahr 1959, damals schon eine feinsinnige Kritik am Kunstmarkt, eine neue „Taschen-Kunstmesse“ herausgegeben? Werner Pöschel war bis zu seiner schweren Erkrankung ein guter Beobachter – gleichgültig, ob es um gesellschaftspolitische, menschliche oder künstlerische Zusammenhänge ging. Vermutlich hätte er sich über die erstaunliche Entwicklung der Kunst aus Leipzig gewundert, die jetzt der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet hat, und sich – den Kopf schüttelnd und schmunzelnd über ein eues Fundstück gebeugt, um ihm neues künstlerisches Leben zu geben und ein neues „Bild zur Zeit“ zu schaffen – ein Kunst-Stück mit Intellekt und Witz, Geist und Ironie, handwerklich perfekt: ein visuelles wie graphisches Meisterwerk. Werner Pöschel hat als Diakon in Bethel und zugleich als Künstler Petit Frère viel bewegt, weil er Kunst und Leben, Leben und Kunst, Freundschaft und die Arbeit für die Menschen miteinander verbinden konnte. So hat er die seltsam-naiven, bunt bemalten und außergewöhnlichen Beton-Gestalten des Recklinghausener Bergmanns Erich Bödeker ebenso sehr geschätzt wie den Urheber selbst, so dass die beiden nicht nur eine tiefe Freundschaft, sondern mehrere Ausstellungsprojekte in Bielefeld, Recklinghausen und anderswo verband, die zu einer „Statue eines Mannes mit schwarzem Haupthaar, einer dunkel gerandeten Brille und einer handelsüblichen, nicht mehr neuen Tabakspfeife im Mund“(1) führte: zum Portrait Petit Frères, das heute noch im Besitz der Familie Pöschel ist. Dieses Kunstwerk eines naiven Autodidakten aus dem Ruhrgebiet veranschaulicht auf verblüffend stimmige und eindeutige Art und Weise, was den „kleinen Bruder“ ausmacht: Familie, Kunst und Beruf hat er gleichsam als „Hausherr“ gemanagt und seine Tätigkeit als der Diakon Werner Pöschel, als Leiter der Werkstatt Lydda in Bethel und als Künstler Petit Frère zu einem stimmigen Ganzen verbunden, das sich wie ein Quillt aus vielen kleinen, an sich unscheinbaren Bestandteilen zusammensetzt. Vielerlei Fundstücke aus dem menschlichen Alltag – im näheren und weiteren Sinne des Wortes – fügen sich zu einem sensibel zusammengefügten ästhetischen Bild, gleichgültig, ob es sich um die Motivation geistig Behinderter zu künstlerischer Tätigkeit, die Rettung des Hauses Lydda vor dem Abrissbagger zum Ausbau eines Hauses der bildenden Kunst oder um Bücher, Bilder, Graphiken oder gar um Kuriositäten, im Allgemeinen als Abfall zu bezeichnende Relikte menschlichen Lebens handelt, die er mit überraschender Sensibilität ästhetisch neu zusammengefügt und in ihrem Sinn gestalterisch erweitert hat.
Bis heute kolportiert wird Werner Pöschels Scherz, dass er deshalb so klein von Wuchs sei, damit er die Fundstücke des Lebens auf dem Boden besser sehen und leichter aufheben könne. Seine gestalterische Liebe galt tatsächlich dem vermeintlich Überflüssigem, Zerstörtem, Banalem, das er in seinen Magazinschränken und -schubladen ordnete und bewahrte, um alledem bei Gelegenheit eine neue, freie und spielerische Bedeutung zu geben. „Fundsachen“ nannte Petit Frère seine kleinen Kunstwerke, für die ihm in der Betheler „Brockensammlung“ und auf langen Spaziergängen ein schier unerschöpflicher Vorrat zur Verfügung stand.
„Das Geringste“, schrieb Jürgen Conrady, „war ihm im Wortsinn des ‚Aufhebens’ wert, um scheinbare Wertlosigkeit durch unverhofftes Arrangement, ein paar Zeilen mit Humor und wenige Tuschestriche in überraschenden neuen Sinn zu verwandeln.“(2) Mit zartem Strich, wie man ihn in der Druckgraphik findet,
führte er in kalligraphischer Kunstfertigkeit Linien zu bizarren Gebilden, mit Vorliebe auf alten  Papieren mit rauer Fläche, die schon mit Rissen, Flecken, Schattierungen zum Finden skurriler Formen herausfordern. Suchen, Finden, Entdecken, Umgestalten, Bewahren, Verwahren – das sind die Leitmotive der Kunst Petit Frères, die zudem zu einem Freudenfest der Schriftlichkeit von Sprache, fast zu Literatur werden, wenn man einen Blick auf die geistreichen Bildunterschriften wirft: Die zumeist mit feiner Ironie und bissiger Zeitkritik menschliche Verhaltensweisen und Unzulänglichkeiten im künstlerischen Sinne vor Augen führenden Spitzfindigkeiten zeugen von großem Humor und zur gleich von großer Menschenfreundlichkeit und Toleranz.(3)
Die Kunst Petit Frères ist keine dekorative Kunst ohne jegliche Notwendigkeit, keine Kunst, die moralisierende Inhalte ästhetisch verpackt und keine Spielerei mit den Mitteln der bildenden Kunst, sondern eine Methode, ein Stil künstlerischer Bildung, die die Betrachter dazu befähigt, den Wert des Augenblicks, des vermeintlich Unbrauchbaren und der Poesie neu schätzen zu lernen. So werden seine Collagen und Assemblagen aus unerwartet originellen Bestandteilen mit ihren zahlreichen Aphorismen, Geschichten und Anekdoten zu einer ganz neuen Form visueller Poesie: Werner Pöschel hat eine immense Gabe, die verborgene Sprache anscheinend längst verstummter, zum Schweigen verurteilter Dinge zu hören, sie wieder sprechen zu lassen, mit anderen ‚Partnern’ ins Gespräch zu bringen. Dazu schreibt er dann, in meisterlicher Handschrift, seine kleinen Verse in Prosa, seine hintergründigen Anmerkungen über die Welt, die er in diesen kleinen Welten darstellt,“ schreibt Otto Königsberger in den Dortmunder „Ruhr-Nachrichten“ vom 12. Januar 1974 – ein mehr als 30 Jahre alter Satz, der auch heute noch Gültigkeit hat und dem wegen seiner Aktualität nichts mehr hinzuzufügen ist.

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Anmerkungen:
1) Dieter Lohmann, in: Unsere Kirche. Evangelisches Sonntagsblatt für Westfalen und Lippe, Nr. 27/1971.
2 Jürgen Conrady: Leserbrief Deutlicher würdigen zum Tod von Werner Pöschel, in: Der Ring, Nr. 8/2002, S. 28.
3 Vgl. dazu Lothar Geissler, in: Lippische Rundschau, 16.11.1971, aber auch Rago T. Ebeling: Vorwort zum Ausstellungskatalog Kunststudio Westfalen-Blatt, Bielefeld 1973.

Die Publikation:

Andreas Beaugrand, Ulrike Wetzlar: Petit Frère. Gesammelt und wohlgeordnet aufbewahrt. Werke 1957–1994. Werner Pöschel (1927–2002) zum 80. Geburtstag,
mit Texten von Andreas Beaugrand, Gisela Burkamp, Volker Dallmeier, Raimund Hoghe, Reinhard Neumann, Peter Opitz und Ulrike Wetzlar, einem Interview mit Gerhild Pöschel und einem Grußwort des Oberbürgermeisters der Stadt Bielefeld, Eberhard David.
136 Seiten, 205 Abbildungen, Farbe, Festeinband, Fadenbindung, 24 x 30 cm, 29,80 €.
Verlag für Druckgrafik Hans Gieselmann, Bielefeld 2007.